- Kurden
- Kụrden,Volk mit einer iranischen Sprache in Vorderasien, das in einem zusammenhängenden Verbreitungsgebiet (etwa 200 000 km2) im Grenzbereich Türkei/Irak/Iran sowie in Nordostsyrien lebt. Durch Migrationen und Umsiedlungen gelangten Kurden auch nach Jordanien, in den Libanon, in andere Teile Syriens, nach Zentralanatolien, in östlichen iranischen Provinzen, nach Armenien und Georgien und von dort bis nach Zentralasien. Rezente Arbeitsmigrationen ließen größere kurdische Populationen in den Städten Istanbul und Adana sowie in Westeuropa (u. a. in Deutschland) entstehen. Die Zahl der Kurden kann nur grob geschätzt werden, da entsprechende Volkszählungsergebnisse fehlen oder nicht veröffentlicht werden; Schätzungen schwanken zwischen 12 und 30 Mio., wobei die Zahl von 22,5 Mio. wahrscheinlich ist. Trotz gemeinsamer Sprache, Geschichte und Kultur konnten die Kurden keinen eigenen Nationalstaat errichten; sie bilden Minderheiten in der Türkei (12 Mio.), in Iran (5,5 Mio.), in Irak (3,7 Mio. ), in Syrien (0,5 Mio.), in der GUS (0,15 Mio.) sowie in Westeuropa (0,62 Mio.).Ackerbau und Viehhaltung (Schafe, Ziegen) spielen eine bedeutende Rolle. Der Anteil von Nomaden ist heute gering. Die vorderorientalisch-kurdische Agrargesellschaft wird noch immer durch das Klanwesen geprägt. 75-80 % der Kurden sind sunnitische Muslime. Der Rest gehört zu meist extremen Richtungen des schiitischen Islams (Alewi, Ahl-e Hakk). Aufgrund historischer Erfahrungen mit sunnitischen Muslimen identifizieren sich die Jesiden trotz kurdische Muttersprache nicht vorbehaltlos mit den Kurden.In Mittelalter und Neuzeit lebten die Kurden in zahlreichen feudalen Lokalfürstentümern und Stammeslehen. Kurdischen Ursprungs war die von Saladin begründete Dynastie der Aijubiden, die in der Zeit der Kreuzzüge eine wichtige Rolle spielte. Im Frieden zwischen dem Osmanischen und dem Persischen Reich 1639 gelangte der größte Teil des Kurdengebiets an das Osmanische Reich. Die Zugehörigkeit kurdischer Fürstentümer zu einem der beiden Reiche war selten mehr als nominell. Im Zuge der sich ausbreitenden Zentralstaatlichkeit wurden die letzten kurdischen Emire bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts durch Gouverneure ersetzt. Nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs (Oktober 1918) sprach der Friedensvertrag von Sèvres (10. 8. 1920 nicht in Kraft getreten) zwischen den Ententemächten und der Regierung Sultan Mohammeds VI. den Kurden des Reiches erstmals ein Recht auf Eigenstaatlichkeit zu und führte damit zu einem Erwachen der kurdischen Nationalbewegung. Durch die Staatenneubildungen nach dem Ersten Weltkrieg wurde das osmanische Kurdengebiet jedoch auf die Länder Türkei, Irak und Syrien verteilt.Die Türkei erkennt die Kurden nicht als nationale Minderheit an. Im Friedensvertrag von Lausanne (24. 7. 1923 waren die Kurden als Muslime nicht unter den für nichtmuslimischen Minderheiten garantierten Minderheitenschutz gefallen. Zwischen 1925 und 1937 schlug die türkische Armee mehrere größere Aufstände nieder. Seitdem verfolgen die türkische Regierung mit unterschiedlicher Intensität eine Politik der Türkisierung (Verleugnung einer eigenen Identität der Kurden als Volk aufgrund der These von »iranisierten Proto-« oder »Bergtürken«, Verbot der öffentlichen Meinungsäußerung in Kurdisch durch das Sprachengesetz vom 22. 10. 1983 [1991 Teilaufhebung des Sprachverbots]). Das rigorose Vorgehen der Sicherheitskräfte gegen jedes Bekenntnis zum Kurdentum nach dem Militärputsch (1980) steigerte unter den Kurden die Bereitschaft zu einer Radikalisierung der Autonomiebestrebungen. Die 1978 gegründete Kurdische Arbeiterpartei (türkisch Partîya Karkerên Kurdistan, Abkürzung PKK) begann 1984 den bewaffneten Guerillakampf für einen eigenen kurdischen Staat auf türkischem Boden (1994-99 offizielles Eintreten für kurdische Autonomie); viele kurdische Exilorganisationen orientierten sich fortan an der PKK. Angesichts ihrer militanten Aktivitäten verkündete die türkische Regierung 1987 den Ausnahmezustand in zahlreichen Provinzen Südostanatoliens. Seit 1991 gesteht die türkische Regierung den Kurden auf ihrem Staatsgebiet größere Rechte zu (v. a. den offiziellen Gebrauch ihrer Sprache; Anerkennung als ethnische Minderheit). Gleichzeitig verschärften sich, besonders ab 1992/93, die Auseinandersetzungen zwischen PKK-Kämpfern und der türkischen Armee (u. a. Großoffensive in der Südosttürkei gegen die PKK mit 100 000 Soldaten, Panzern und Kampfflugzeugen, Juli 1993, Angriffe in die PKK-Rückzugsgebiete v. a. in Nordirak); zahlreiche kurdische Dörfer in Südostanatolien wurden zerstört, massenhaft flohen Kurden. Mit blutiger Härte geführt von Generalsekretär A. Öcalan, richtete sich der PKK-Terror (neben Armee und touristischen Zentren in der Türkei; etwa 37 000 Todesopfer) zunehmend auch gegen türkische Einrichtungen in europäischen Städten, darunter in Deutschland, wo zwischen 350 000 und 550 000 Kurden leben. - Im April 1995 konstituierte sich in Den Haag ein kurdisches Exilparlament. - Mehrmals, zuletzt 1998, bot Öcalan der türkischen Regierung ein Ende des bewaffneten Kampfes an, wenn die PKK als legale Partei zugelassen würde. Mit der Verständigung zwischen den rivalisierenden kurdischen Parteien in Nordirak (unter amerikanischer Vermittlung, September 1998) verlor die inzwischen militärisch erheblich geschwächte PKK ihre dortigen Rückzugsgebiete; die türkische Regierung befürchtete mit dem Abkommen allerdings eine Stärkung der De-facto-Autonomie des kurdischen Nordirak, die auf Türkisch-Kurdistan ausstrahlen könnte. Erst Hochverratsprozess und Todesurteil gegen Öcalan (1999) bewirkten eine Wende (friedliche Lösung in Sicht) im türkisch-kurdischen Konflikt (Aufgabe des bewaffneten Kampfes und Rückzug der PKK aus der Türkei ab Ende August/Anfang September 1999; Abschluss bis Ende 1999 zugesagt).In Iran wurden die Kurden unter den Pahlewi-Schahs (1925-79) ihrer Sprache wegen als Teil der staatstragenden iranischen (Völker-)Gemeinschaft ohne Anspruch auf Minderheitenrechte angesehen. Während des Zweiten Weltkriegs ermöglichte die Anwesenheit sowjetischer Truppen in Nordwestiran (1941-46) die Ausbreitung des Nationalgedankens im iranischen Kurdengebiet. Im Januar 1946 rief Ghasi Mohammed die »Kurdische Republik Mahabad« ins Leben (bis Dezember 1946). 1979 belebte der Widerstand gegen den Schah auch den kurdischen Nationalgedanken in Iran neu, und kurdische Organisationen begannen wieder aktiv zu werden. Anfang der 80er-Jahre kam es zu massiven Kämpfen kurdischer Widerstandsorganisationen gegen die neuen Machthaber. In der »Islamischen Republik Iran« stellen Forderungen von muslimischen Bevölkerungsgruppen nach Minderheitenrechten beziehungsweise Autonomie einen Widerspruch zur Staatsauffassung dar, da im islamischen Staat keinem Muslim Sonderrechte eingeräumt werden. Aufgrund von Verfolgungen befanden sich 1993 etwa 30 000 kurdische Flüchtlinge aus Iran im grenznahen irakischen Kurdengebiet; von dort führten kurdische und andere Oppositionsgruppen immer wieder Aktionen gegen das fundamentalistisch-islamische Regierungssystem in Iran durch. Zu ihrer Bekämpfung stießen 1993 iranische Streitkräfte auf irakischem Gebiet vor.In Irak unterstützten die Kurden 1958 den Sturz der Monarchie und die Errichtung der Republik, deren Verfassung ihnen nationale Rechte garantierte. Als sie sich jedoch in der praktischen Umsetzung enttäuscht sahen, führten sie unter Mullah Mustafa Barsani 1961-70 (mit Unterbrechungen) einen erbitterten Krieg gegen den Staat. Sie wurden hierbei von Iran und auch von Israel mit Waffen für ihre Kämpfer (Peschmerga) beliefert. Eine Verfassungsänderung 1970 erkannte die Kurden als zweite Nation (neben den Arabern) in Irak an. 1974 setzte die Regierung einseitig einen Autonomiestatus für die Provinz Dohuk, Erbil und Sulaimaniya in Kraft. Dies führte zu einem erneuten Aufstand unter M. M. Barsani (✝ 1979), der unmittelbar nach der Verständigung zwischen Iran und Irak im März 1975 zusammenbrach. Im 1. Golfkrieg (1980-88) kämpften irakische Kurden mit iranischer und syrischer Unterstützung gegen Irak, während Irak die aufständischen iranischen Kurden unterstützte. Nach dem Waffenstillstand (1988) gingen irakische Truppen gegen die Kurden in Nordostirak vor und setzten hierbei auch Giftgas ein. Viele Kurden flohen in die Türkei, andere nach Iran. Nach der Niederlage Iraks im 2. Golfkrieg (Januar-Februar 1991) erhoben sich die irakischen Kurden im März 1991 gegen das diktatorische Regime Präsident S. Husains, der jedoch den Aufstand niederschlug. Dies löste einen Strom kurdischer Flüchtlinge (auf seinem Höhepunkt etwa 1,5-2 Mio. Menschen) nach Iran und in das irakisch-türkische Grenzgebiet aus. Um die kurdischen Flüchtlinge vor irakischer Verfolgung zu schützen, richteten amerikanische, britische und französische Truppen im April 1991 in Nordirak (nördlich des 36. Breitengrads) eine Sicherheitszone ein. In deren Schutz entstand - ohne Zustimmung Iraks - ein faktisch autonomes Gebiet, in dem am 19. 5. 1992 Parlaments- und Präsidentschaftswahlen durchgeführt wurden; dabei erhielten die Demokratische Partei Kurdistans (Abkürzung DPK) und die Patriotische Union Kurdistans (Abkürzung PUK) von 105 Sitzen je 50. Am 4. 10. 1992 verabschiedete ein gewähltes kurdisches Regionalparlament in Erbil eine Resolution über die Bildung eines kurdischen Teilstaates innerhalb Iraks (Proklamation eines konföderativen »Kurdistans«). 1994-97 kam es dort wiederholt zu blutigen innerkurd. Machtkämpfen, insbesondere zwischen der von M. Barsani geführten Demokratischen Partei Kurdistans (Abkürzung DPK) und der Patriotischen Union Kurdistans (Abkürzung PUK) unter J. Talabani (Irak, Geschichte).In Syrien verfolgten die verschiedenen Regierungen zwischen 1961 und 1976 eine radikale Arabisierungspolitik gegenüber den Kurden. Aus außenpolitischen Gründen duldete Syrien seit 1976 die Anwesenheit kurdischer Oppositionsgruppen aus Irak (seit 1981 auch aus der Türkei). Dies führte u. a. zu einer Milderung des Assimilationsdrucks gegenüber der eigenen kurdischen Minderheit.In Georgien und Armenien geht die kurdische Minderheit auf Flüchtlinge (Jesiden) zurück, die im 19. und frühen 20. Jahrhundert zum Teil aus Glaubensgründen aus dem Osmanischen Reich abgewandert waren. 1937/38 wurden Kurden aus den kaukasischen Gebieten nach Kasachstan und Kirgistan umgesiedelt.Vor dem Hintergrund eines hohen Anteils der Kurden unter den ausländischen Arbeitnehmern (zwischen 350 000 und 550 000) geriet auch Deutschland in den Sog der Kurdenproblematik, zumal bekannt wurde, dass deutsche Waffen, die die Türkei im Rahmen von NATO-Absprachen erhielt, von der türkischen Armee bei der Bekämpfung der PKK eingesetzt worden sind. Anhänger der auch in Deutschland seit 1993 verbotenen PKK veranstalteten Demonstrationen, die zum Teil zu gewalttätigen Zwischenfällen führten; auch Anschläge auf türkische Geschäfte und Einrichtungen werden der PKK zugerechnet.Der Wunsch der Kurden nach einem eigenen Nationalstaat ist ungebrochen. Mit der Hoffnung auf internationale Unterstützung werden Autonomierechte im gesamten Siedlungsgebiet angestrebt.Kurdische Sprache und LiteraturDie Sprache der Kurden, die zu den iranischen Sprachen gehört, besteht aus mehreren zum Teil stark voneinander abweichenden Dialekten. Am weitesten verbreitet ist jedoch zum einen der nordkurd. Dialekt Kurmandschi, der v. a. in der Türkei und in den Grenzgebieten zu Irak und Iran, in Armenien, Georgien, Aserbaidschan, Kasachstan, Kirgistan, Turkmenistan sowie in Syrien gesprochen und in lateinischer, zum Teil in kyrillischer Schrift geschrieben wird, zum anderen der südkurd. Dialekt Kurdi, der v. a. in Iran und Irak gesprochen und in arabischer Schrift geschrieben wird.Die Kurden besitzen einen reichen Schatz an Volksmärchen, Liedern und Epen. Ein kurdischer Dichter, Ahmed Chani (* 1650, ✝ 1707 ?), fasste nach klassisch-persischem Muster das romantische Liebesepos »Mem und Zin« in Verse. Er formulierte auch zum ersten Mal den Gedanken einer nationalen kurdischen Einheit. Während des 19. Jahrhunderts wirkten im Gebiet der lolaken Fürstentümer Ardelan (um Sanandaj/Iran) und Baban (um Sulaimaniya) mehrere namhafte kurdische Dichter, u. a. in Ardilan Mewlewi (* 1806, ✝ 1882), dessen Literatursprache Gurani war, in Baban der Dichter Nali (* 1806, ✝ 1856), der revolutionäre Hadji Kadir (* 1817, ✝ 1896/97) und auch der derbe Scheich Resa Talebani (* 1837, ✝ 1919), die in ihren Werken den Dialekt von Sulaimaniya (Slemani) verwendeten.Nach dem Ersten Weltkrieg entstand ein breit gefächertes kurdisches Schrifttum unter Verwendung sowohl des lateinischen, des arabisch-persischen als auch, in Armenien, des kyrillischen Alphabets. In ihm wurden sowohl traditionelle als auch sozialrealistische Themen behandelt. Bekannt wurden u. a. die Publizisten Tofik Piramerd (* 1867, ✝ 1950, Irak), Djeladet Ali Bedir Khan (* 1887, ✝ 1951, Syrien), Arab Schamilow (* 1898, ✝ 1979, Armenien). Unter den zahlreichen Dichtern traten besonders der politisch links orientierte Scheichmus Djegerchun (* 1903, ✝ 1984, Syrien) und der Romantiker, später Realist Abdullah Goran (* 1904, ✝ 1962, Irak) hervor.Scheref-nameh. Ou, Histoire des Kourdes, hg. v. V. Véliaminof-Zernof, 2 Bde. (Petersburg 1860-62);Kurdistan u. die K., hg. v. G. Chaliand u. a., 3 Bde. (a. d. Frz., 1984-88);F. Ibrahim: Die kurd. Nationalbewegung im Irak. Eine Fallstudie zur Problematik ethn. Konflikte in der Dritten Welt (1983);Mémoire du Kurdistan, bearb. v. J. Blau (Paris 1984);C. More: Les Kourdes aujourd'hui. Mouvement national et partis politiques (Paris 1984);E. Franz: K. u. Kurdentum. Zeitgesch. eines Volkes u. seiner Nationalbewegungen (1986);Z. al-Dahoodi: Die K. Gesch., Kultur u. Überlebenskampf (1987);M. van Bruinessen: Agha, Scheich u. Staat, Politik u. Gesellschaft Kurdistans (a. d. Engl., 1989);D. L. Sweetnam: Kurdish culture. A cross-cultural guide (Bonn 1994);Hier finden Sie in Überblicksartikeln weiterführende Informationen:Türkei: Zwischen Kemalismus und Tradition
Universal-Lexikon. 2012.